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Kann Lebensqualität zu teuer sein?

Nicht immer erhalten Menschen mit Behinderung dringend benötigte Hilfsmittel

Zwei Männer stellen Prothesen her.
Viele Menschen benötigen Prothesen, um beruflich oder privat am Leben teilzuhaben. Doch längst nicht alles, was ihnen den Alltag erleichtern könnte, wird auch bezahlt. Foto: AS Photo Project / Adobe Stock

Soweit möglich sollen Hilfsmittel vorhandene Beeinträchtigungen ausgleichen. Nicht immer aber werden Rollstühle, Hörgeräte oder Körperersatzstücke (Prothesen) von der Krankenkasse bezahlt. Oft entbrennt dann ein Streit darüber, was medizinisch notwendig oder möglicherweise schlicht zu teuer ist. Betroffene führen in der Folge einen zähen Kampf um Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe. 

Es steht außer Frage, dass Versicherte einen Anspruch auf individuelle Versorgung haben. Gleichzeitig aber sind die Krankenkassen gesetzlich dazu verpflichtet, nur „notwendige, zweckmäßige und wirtschaftliche“ Hilfsmittel zu bewilligen. Medizinische Bedarfe und ärztliche Verordnungen müssen sich dabei nicht selten finanziellen Erwägungen unterordnen. So wird etwa jeder fünfte Antrag auf ein Hilfsmittel abgelehnt. Darauf weist auch eine aktuelle Studie hin (siehe Interview unten).
 
Tatsächlich vermeiden die Kassen dadurch oftmals Ausgaben. Denn die Betroffenen selbst nehmen drei Viertel aller Ablehnungen stillschweigend hin. Und das, obwohl im Schnitt mehr als die Hälfte der Widersprüche am Ende erfolgreich sind. Eine schlechte oder auch „nur“ verzögerte Versorgung bleibt jedoch nicht ohne gesundheitliche Folgen. Sie geht zulasten der Teilhabe und der Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen. 
In seiner sozialpolitischen Arbeit setzt sich der SoVD dafür ein, dass die Belange von Patient*innen an erster Stelle stehen. Die Beratungszentren des Verbandes unterstützen Mitglieder dabei, ihre Ansprüche durchzusetzen.

Interview: „Eine hochwertige Versorgung rechnet sich“

Vom Magazin „Rollstuhlkurier“ zum Ratgeber „Handicapped-Reisen“ – Pascal Escales führt ein Familienunternehmen, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen mit Beeinträchtigungen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe zu verhelfen. Er hält die gängige Praxis, Versorgungslösungen durch einen Preis zu begrenzen, für würdelos. Seine Studie „Von einer Volkswirtschaft der Lebensqualität“ zeigt, dass eine hochwertige Versorgung letztlich auch wirtschaftliche Vorteile bringen würde. Wir sprachen mit Pascal Escales über den Alltag der Menschen, die auf Hilfsmittel angewiesen sind und was sich aus seiner Sicht ändern müsste.

Wie schätzen Sie das ein, erhalten Betroffene eigentlich immer die Hilfsmittel, die sie auch benötigten?

Theoretisch wäre eine umfassende und hochwertige Versorgung durchaus möglich. In der Praxis hängt die dann aber von mehreren Faktoren ab. Da spielen der eigene Bildungsgrad und finanzielle Möglichkeiten sowie rechtliche Kenntnisse oder auch die Beratung durch Fachleute eine wichtige Rolle. Entscheidend ist oft auch das individuelle Durchhaltevermögen. Wer gerade einen Schicksalsschlag erlitten hat, ist oftmals psychisch nicht in der Lage, sich mit der Krankenkasse rumzustreiten, weshalb dieses oder jenes Hilfsmittel nun benötigt wird. Das kann unglaublich belastend sein.

Wie kommt es eigentlich, dass Hilfsmittel nicht nur notwendig und zweckmäßig, sondern auch noch wirtschaftlich sein sollen?

Meiner Ansicht nach muss jeder mit allem versorgt werden, was ihm irgendwie das Leben erleichtern kann. In meiner Studie habe ich ganz bewusst aber auch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit betrachtet. Dabei hat sich sehr deutlich gezeigt, dass eine nicht erfolgte oder qualitativ schlechte Versorgung letztlich noch höhere Kosten nach sich zieht.

Eine weniger restriktive Bewilligung von Hilfen wäre letztlich also wirtschaftlicher?

Wenn ich auf etwas warte, das ich dringend benötige, dann kostet das mich und auch meine Angehörigen sehr viel Nerven, Zeit und Geld. Das ist natürlich überhaupt nicht produktiv, und wir leben ja in einer Leistungsgesellschaft. Da müssen wir umdenken und erkennen, dass eine hochwertige und schnelle Versorgung letztlich der bessere Weg ist.

Wenn wir frühzeitig Geld ausgeben, können wir also an anderer Stelle sparen?

Das Robert Koch-Institut hat schon vor einiger Zeit auf die immensen Folgekosten hingewiesen, die durch unzureichend behandelte Druckgeschwüre entstehen. Viele dieser Dekubitus-Fälle wären durch eine rechtzeitige Versorgung vermeidbar. Das brächte den Betroffenen nicht nur mehr Lebensqualität, sondern würde gleichzeitig auch eine Milliardensumme einsparen. Und hier reden wir nur von diesem einen Bereich.

Vielleicht ist die Frage naiv, aber warum machen wir das dann nicht einfach so?

Ich denke, das hat sehr viel mit Aufklärung zu tun. In Gesprächen höre ich immer wieder den Satz: „Das kann sich unsere Gesellschaft doch gar nicht leisten!“ Dabei werden weniger als vier Prozent aller Ausgaben im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung für Hilfsmittel verwendet. Trotzdem besteht diese Angst vor einer Überversorgung. Ganz ehrlich: Ich habe noch keinen Menschen mit einer Behinderung getroffen, der sich seine Wohnung mit Elektrorollstühlen vollstellen wollte.

Wer sollte Ihrer Meinung nach über ein Hilfsmittel entscheiden?

Die Betroffenen selbst, ihr Arzt oder auch ein Reha-Fachberater wissen in der Regel am besten, was konkret benötigt wird. Die Entscheidung aber trifft der Sachbearbeiter einer Krankenkasse. Dabei kommen teils abstruse Begründungen zustande, warum eine Versorgung nicht bewilligt wird. Und je teurer es wird, desto wahrscheinlicher ist letztlich auch die Ablehnung.

Haben Sie ein Beispiel?

Spontan fällt mir der Fall eines behinderten Jungen ein, dessen Mutter einen Elektrorollstuhl beantragt hatte. Es dauerte anderthalb Jahre, bis dieses Kind wieder in der Lage war, an Schulaktivitäten oder an Ausflügen mit seiner Klasse teilzunehmen. Wie lässt sich das rechtfertigen? Es muss doch auch dem Mitarbeiter der Krankenkasse klar sein, was so ein Ausschluss von der Gemeinschaft für den Jungen bedeutet.

Kann man sich gegen eine derart ungerechte Entscheidung nicht wehren?

Oft haben Betroffene nicht die Kraft, gegen eine Ablehnung vorzugehen. Neben der psychischen Belastung spielen aber auch die Prozesskosten eine entscheidende Rolle. Aus Angst, vor Gericht zu verlieren, verzichten viele dann halt doch auf den Widerspruch.

Wie hat sich die Pandemie auf den Bereich der Hilfsmittel ausgewirkt, ist die Krise auch so etwas wie eine Chance? 

In den letzten Monaten haben wir alle erlebt, wie es ist, wenn man die Wohnung nicht verlassen kann, wenn man nicht ins Theater oder ins Restaurant gehen kann. Das ist für viele behinderte Menschen auch ohne Coronavirus Alltag. Und unsere Gesellschaft verschränkt quasi die Arme und verweist auf eine Bürokratie und längst überholte Mechanismen, die dazu führen, dass Menschen teilweise erst nach Jahren eine umfassende Versorgung erhalten. Das sollten wir uns vor Augen führen. Vielleicht ist die Krise also vor allem eine Chance auf Erkenntnis.